Past is Not Post
„Solidarität unterstellt nicht, dass unsere Kämpfe die gleichen Kämpfe sind oder dass unser Schmerz der gleiche Schmerz ist oder dass wir uns alle die gleiche Zukunft wünschen. Solidarität erfordert Engagement und Arbeit, aber auch die Anerkennung der Tatsache, dass wir nicht die gleichen Gefühle haben oder das gleiche Leben führen oder die gleichen Körper haben, aber trotzdem über eine gemeinsame Basis verfügen.“
– Sara Ahmed
„Denn die Werkzeuge des Herren werden nie das Haus des Herren niederreißen. Sie ermöglichen uns vielleicht, ihn vorübergehend in seinem eigenen Spiel zu schlagen, aber sie werden uns nie befähigen, einen echten Wandel herbeizuführen.“
– Audre Lorde
Past is Not Post geht von der Beobachtung aus, dass immer mehr Kunstschaffende für ihre Arbeiten in Archiven recherchieren oder sich mit dem historischen Gedächtnis beschäftigen. Auch wenn die Orte, Methoden und Rahmenbedingungen dieser künstlerischen Praktiken vielfältig sind, gibt es einen gemeinsamen Impuls, das Arbeiten mit der Geschichte als eine Art Hintertür zu nutzen, wenn die Gegenwart keine Optionen mehr zu bieten scheint. In Anbetracht der ambivalenten gesellschaftlichen Rolle von Kunstschaffenden der Gegenwart – und vor allem angesichts des Problems, sich bestehenden politischen und gesellschaftlichen Kämpfen anzuschließen –, bieten die intersektionalen und unabgeschlossenen Geschichten der Vergangenheit alternative Herangehensweisen. Kann die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Räume schaffen, um unsere kollektiven Möglichkeiten und Forderungen neu zu formulieren – Räume, die ebenso für Widerstand wie für Zuflucht stehen?
Formate und Herangehensweisen wie der Film- bzw. Videoessay oder die Aneignung von Archivbildern sind an sich nichts Neues. Neu ist jedoch, dass sie im 21. Jahrhundert keine marginalen, sondern etablierte und in der bildenden Kunst weit verbreitete Produktionsweisen sind, die sich auf Online-Videoplattformen zunehmender Popularität erfreuen. Fotografische und filmische Bilder, die einmal die bevorzugten Speichermedien der Aufstände und des Scheiterns der revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts waren, sind inzwischen in der Kunst fest etabliert. Und obwohl man sich heute der beinahe endlosen Manipulierbarkeit dieser Medien bewusst ist, besteht immer noch eine paradoxe „besondere Beziehung“ zwischen der Kamera und der Geschichte. Diese beruht allerdings nicht mehr auf gängigen Vorstellungen von empirischer Wahrheit, sondern eher auf der Suche nach politischen Affekten, nach Kernpunkten des Möglichen, die man im Lichte dessen sieht, was heute fehlt.
Warum betrachten Kunstschaffende die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit immer noch als eine sinnvolle Arbeitsweise? Wie kann man solche Fragen stellen und zugleich die zahlreichen bedeutenden Erfindungen und Kämpfe von Kunstschaffenden, Filmschaffenden und Geschichtsforschenden anerkennen, die dazu dienten, Geschichten der Unterdrückung und Marginalisierung sichtbar zu machen? Solche Produktionen entstehen ebenso vor dem Hintergrund ständig neuer globaler ökologischer und politischer Krisen wie inmitten von Protestbewegungen und massenhafter Mobilisierung. Die Gegenwart verkompliziert unser Verhältnis zu diesen Projekten durch ständig wechselnde Dringlichkeiten und kurze Aufmerksamkeitsspannen: Was in einem Moment aufständisch und kraftvoll wirkt, kann im nächsten schon wie eine Art Flucht vor drängenderen Fragen aussehen.
Past is Not Post ist Teil einer fortlaufenden Recherche des Edith-Russ-Hauses zu künstlerischen Neubewertungen der Geschichte und ebenso kreativen wie subversiven Nutzungen von Archivmaterial, um die Gegenwart zu befragen. Was können wir hier, in einer Zusammenstellung von fast zwanzig Projekten, aus den Resonanzen und Dissonanzen lernen, die durch ihre räumliche und thematische Nähe entstehen? Diese Kunstwerke faszinieren ihr Publikum ebenso als konkrete Objekte wie als allegorische Begegnungen, vor allem, weil sie in ihrer Gesamtheit dazu einladen, über die kulturelle Produktion von Wissen und Bedeutung nachzudenken. Sie appellieren an uns – nicht nur als Rezipierende der Geschichte, sondern auch als Handelnde der Zukunft.
Kuratoren: Benj Gerdes & Lasse Lau
Kran Film Collective
Das Infoheft zur Ausstellung mit Kurzbeschreibungen aller ausgestellten Werke kann als PDF kostenlos heruntergeladen werden. Die Nutzung ist ausschließlich für private Zwecke, andere Nutzungen müssen mit dem Edith-Russ-Haus abgestimmt werden. Download hier.