Shifting Axis
Shifting Axis, Marjolijn Dijkmans erste umfassende Einzelausstellung in Deutschland, bietet einen Einblick in das Gesamtwerk der niederländischen Künstlerin. Fasziniert vom Wissenshunger und Entdeckergeist der Menschheit entwickelte Dijkman eine bemerkenswerte künstlerische Praxis, in der sich die Wege der Wissenschaft, der Kulturgeschichte und der Kunst überschneiden. Der Ausstellungstitel ist einer zentralen Arbeit Dijkmans aus dem Jahr 2015 entlehnt – einer künstlerischen Variante des Foucaultschen Pendels. Mit dem originalen Pendel konnte 1851 der französische Physiker Foucault erstmals überzeugend nachweisen, dass sich die Erde um ihre eigene Achse dreht. Die Spuren, die die ungewöhnlichen Bewegungen von Dijkmans Pendel erzeugen, gehen allerdings nur zum Teil auf die Erdrotation zurück; sie werden auch von einem verborgenen digitalen und mechanischen System beeinflusst, das zu unvorhersehbaren Pendelbewegungen führt. Die hypnotischen, sich ständig verändernden Muster, die im Sand unter dem Pendel entstehen, spielen auf einen aus dem Gleichgewicht geratenen, kreiselnden Planeten an. Der Ausstellungstitel unterstreicht somit auch, dass der neue Blick auf Dijkmans Arbeiten im Kontext der drohenden Klimakatastrophe steht, und verweist insbesondere auf das Jahr 2015. Damals wiesen einige Älteste der Inuit warnend auf ihre ungewöhnlichen Beobachtungen in der Arktis hin, und wenig später legten auch wissenschaftliche Untersuchungen nahe, dass sich die Erdachse tatsächlich verschiebt.
Alle auf Recherchen beruhenden Projekte der Künstlerin sind angetrieben von der Neugier, wie sich die Wissenschaften, die Kosmologie und der menschliche Körper zu den kosmischen Kräften verhalten und wie wissenschaftliche Bestrebungen in der Kulturgeschichte dargestellt wurden. Dijkmans ebenso kritische wie poetische Untersuchungen nutzen wissenschaftliche Instrumente; zugleich beruhen sie jedoch auf der Erkenntnis, dass die grundlegenden Fragen und Interessen der wissenschaftlichen Forschung nicht „neutral“ oder objektiv, sondern kulturell und ideologisch verankert sind. Die visuellen Dimensionen, in die Dijkman die Betrachtenden einlädt, sind mit bloßem Auge zumeist nicht erkennbar. Sie entwirft ihr visuelles Universum, indem sie durch Geräte wie Mikroskope und das Teleskope sieht, und reflektiert dabei immer auch die Grenzen des Körpers sowie das menschliche Streben, diese Grenzen zu überwinden.
So wird in der Videoinstallation Prospect of Interception (2016) ein Asteroid dargestellt, als würde man ihn durch ein Teleskop betrachten. Die Arbeit reflektiert die unterschiedlichen Bildsprachen, in denen Menschen Himmelskörper darstellen, und wirft Fragen nach unserem künftigen Platz im Universum auf. Am anderen Ende der Skala wird der Doku-Science-Film Reclaiming Vision (2018) mithilfe eines Lichtmikroskops produziert; er zeigt einen vielgestaltigen Cast von Mikroorganismen, den die Künstlerin dem Brackwasser von Oslo entnommen hat. In ihrem Video Surviving New Land (2010) stellt Dijkman eine künstliche Insel im Hafen von Rotterdam vor; diese wurde in der Hoffnung angelegt, einen der größten Häfen weltweit zu schaffen, der den ausgedehnten Handel mit China – einschließlich der gigantischen Chinamax-Schiffe – bewältigen kann. Dijkman unterlegt die Filmaufnahmen mit Tonspuren aus verschiedenen klassischen Abenteuerfilmen, die das – aus westlicher Sicht – aufregende Gefühl der Entdeckung neuer, unbekannter Länder romantisieren. Dadurch wird das zugrundeliegende Narrativ einer profitorientierten Herrschaft hervorgehoben, die genauso wie wissenschaftliche Neugier nach Entdeckungen strebt.
Dijkmans Filme reflektieren die Beziehungen der Menschen zu ihrer Umgebung in allen Dimensionen. Im Fokus steht insbesondere das, was man nicht sehen kann, worauf wir jedoch einen unbestrittenen Einfluss haben. Dazu dient die Untersuchung von Wasserproben und des Lebens darin (die bei der Vorhersage von Umweltszenarien in vielen Küstenregionen der Welt eine wichtige Rolle spielen), aber auch die Betrachtung ferner Himmelskörper oder von Spuren, die menschliche Aktivitäten auf der Erde hinterlassen haben.
Dijkmans Arbeiten hinterfragen fast ausnahmslos die Perspektive des menschlichen Blicks, indem sie versuchen, in andere Richtungen, in anderen Maßstäben und auf andere Weise zu sehen. Ein solcher Perspektivwechsel erscheint heute notwendig: Da unsere früheren Auffassungen angesichts einer die Welt bedrohenden Klimakrise offenkundig obsolet geworden sind, muss die Menschheit dringend neue Visionen entdecken und anfangen, der Welt neue Zukunftsperspektiven zu erschließen.
Neben ortsspezifischen skulpturalen und Video-Installationen der Künstlerin zeigt die Ausstellung Shifting Axis eine aktuelle Umsetzung ihres fortlaufenden Projekts LUNÄ (seit 2011): eine Installation im Aquarium, dem von außen einsehbaren Ausstellungsraum des Edith-Russ-Hauses. LUNÄ ist eine Kopie des Tisches, den die Lunar Society – eine Gruppe britischer Industrieller, Wissenschaftler, Dichter und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts – bei ihren Versammlungen nutzte. Die fast ausschließlich aus Männern bestehende Society hielt, zumeist bei Vollmond, inspirierende Sitzungen ab, in denen sie untersuchte, wie Wissenschaft, Technik und Kunst der Gesellschaft dienen könnten. LUNÄ greift drei Jahrhunderte später auf diesen historisch bedeutenden Moment zurück. Ein Faksimile des Tisches, um den sich die Mitglieder der Society versammelten, schafft einen Kontext, um die Themen, die sie damals diskutierten, zu überdenken und kritisch zu erforschen, und lädt dazu ein, neue Ideen auf diesen Gebieten zu erkunden. Die Oldenburger LUNÄ-Versammlung wird zum Vollmond am 19. November erfolgen.
Kuratiert von Edit Molnár & Marcel Schwierin.
Das Infoheft zur Ausstellung mit Kurzbeschreibungen aller ausgestellten Werke kann als PDF kostenlos heruntergeladen werden. Die Nutzung ist ausschließlich für private Zwecke, andere Nutzungen müssen mit dem Edith-Russ-Haus abgestimmt werden. Download hier.